Byung-Chul Han: "Infokratie"
06:14 Minuten
Von Bettina Baltschev |
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Die Demokratie wird mehr und mehr ausgehöhlt: Diese Diagnose stellt der Philosoph Byung-Chul Han in "Infokratie". Seine allumfassende Kritik unserer stark durch digitale Medien geprägten Gesellschaft ist eine scharfe, aber düstere Analyse.
"Strukturwandel der Öffentlichkeit" nannte sich vor knapp einem halben Jahrhundert ein Schlüsselwerk der Sozialwissenschaften. Ausführlich beschreibt Jürgen Habermas darin den Einfluss der Massenmedien auf die bürgerliche Öffentlichkeit.
Statt in Salons und literarischen Gesellschaften miteinander zu sprechen, würden Zeitungen und Fernsehen den Bürger vereinzeln und so den notwendigen gesellschaftlichen Austausch behindern, wenn nicht gar verhindern.
Heute haben die klassischen Massenmedien längst Konkurrenz von den digitalen Medien bekommen und wieder muss ein Strukturwandel der Öffentlichkeit konstatiert werden. Die Folgen sind schon des Öfteren beschrieben worden.
Algorithmen dringen in die Privatsphäre ein
Nun fügt der Philosoph Byung-Chul Han auf knapp einhundert Seiten ein weiteres, äußerst düsteres Bild unserer Gegenwart hinzu. Der Titel "Infokratie" deutet es bereits an: Wir werden beherrscht von einem digitalen Informationsregime.
Das heißt, Informationen und deren Verarbeitung mittels Algorithmen und Künstlicher Intelligenz bestimmen gesellschaftliche Prozesse und dringen tief in unsere Privatsphäre ein. Das tun sie jedoch so geschmeidig und subtil, dass wir es uns nur allzu gern gefallen lassen, beschreibt Byung-Chul Han:
"Das Smartphone erweist sich als effizienter Informant, der uns einer Dauerüberwachung unterzieht. Smart Home verwandelt die ganze Wohnung in ein digitales Gefängnis, das unser alltägliches Leben minutiös protokolliert. Der smarte Staubsaugerroboter, der uns mühsames Putzen erspart, kartiert die ganze Wohnung. Das Smart Bed mit vernetzten Sensoren setzt die Überwachung auch während des Schlafes fort. Die Überwachung schleicht sich in Form von ‘Convenience‘ in den Alltag ein. Im digitalen Gefängnis als smarter Wohlfühlzone erhebt sich kein Widerstand gegen das herrschende Regime. Der Like schließt jede Revolution aus."
Künstliche Intelligenz statt Diskurs
Statt uns also gegen das Informationsregime aufzulehnen, liefern wir uns einem "Dataismus mit totalitären Zügen" aus, wie Byung-Chul Han es nennt. Dieser Dataismus verlässt sich ganz und gar auf Zahlen. Weder lässt er Platz für Ideologien noch für gesamtgesellschaftliche Erzählungen.
Und weil Big Data und Künstliche Intelligenz vermeintlich schlauer sind als der Mensch, braucht es auch keinen öffentlichen Diskurs mehr. Politisches Handeln, mehr noch aber politisches Verhandeln wird überflüssig. Die Demokratie, schreibt Han, entarte so zur Infokratie. Dem hätten wir allerdings wenig entgegenzusetzen, weil wir doch nur mit uns selbst beschäftigt sind.
"Die zunehmende Atomisierung und Narzifizierung der Gesellschaft macht uns taub gegenüber der Stimme des Anderen. Sie führt ebenfalls zum Verlust der Empathie. Heute huldigt jeder dem Kult des Selbst. Jeder performt und produziert sich. Nicht die algorithmische Personalisierung des Netzes, sondern das Verschwinden des Anderen, die Unfähigkeit, zuzuhören, ist verantwortlich für die Krise der Demokratie."
Digitalität und Faktizität als Gegensatz
Es sind wahrlich dystopische Sätze, die Byung-Chul Han formuliert. Unsere Gesellschaft sei einer kompletten Fragmentierung unterworfen. Die permanente Gegenwart der Information verdränge Wissen, Erfahrung und Erkenntnis. Der ständige Informationsrausch halte uns in einer neuen Unmündigkeit.
Das kommunikative Handeln, wie Jürgen Habermas es einst ausführlich beschrieb, ist am Ende. Denn dieses Handeln setze ein Gegenüber voraus, dem wir jedoch in unserer digitalen Vereinzelung nicht mehr begegnen. Die Folge davon sei eine zunehmende Erosion des Faktischen, schreibt Byung-Chul Han:
"Die digitale Ordnung schafft generell die Festigkeit des Faktischen, ja die Festigkeit des Seins ab, indem sie die Herstellbarkeit totalisiert. In der totalen Herstellbarkeit gibt es nichts, was sich nicht rückgängig machen ließe. Die digitalisierte, das heißt informatisierte Welt ist alles andere als hartnäckig und zäh. Sie ist vielmehr beliebig formbar und manipulierbar. Die Digitalität ist der Faktizität diametral entgegengesetzt. Die Digitalisierung schwächt das Fakten- und Tatsachenbewusstsein, ja das Realitätsbewusstsein selbst ab."
Dieses geschwächte Realitätsbewusstsein allerdings öffnet Tür und Tor für Verschwörungstheoretiker und neurechte Verführer. Diese ersetzen eine gesamtgesellschaftliche identitätsstiftende Erzählung mit eigenen Narrativen. Dabei nutzen sie geschickt die Verunsicherung derer aus, die angesichts der Flut an Informationen nach einfachen Erklärungen suchen.
Zugespitzte Kritik am Informationskapitalismus
Seine Kritik am neoliberalen Informationskapitalismus hat Byung-Chul Han in früheren Texten schon mehrfach ausformuliert. Doch in "Infokratie" spitzt er seine Thesen noch einmal zu, wendet sie auf aktuelle Gegebenheiten an und gibt dem Kind einen griffigen Namen. Den nahe liegenden Wunsch eines Auswegs erfüllt der Philosoph jedoch nicht.
Vermutlich sieht er das auch nicht als seine Aufgabe. Stattdessen kehrt Han am Ende seines Aufsatzes zu einem Schlüsselbegriff seines Fachs zurück, zur Wahrheit. Das davon nicht viel übrig sein kann, ahnt man. "Die Wahrheit zerfällt zum Informationsstaub, der vom digitalen Wind verweht wird. Sie wird eine kurze Episode gewesen sein", so seine Voraussage.
"Infokratie" von Byung-Chul Han, das ist Gesellschaftskritik to go. Klein und handlich im Format, auch für Laien verständlich geschrieben, liefert sie eine so scharfe wie düstere Analyse unserer digitalen Wirklichkeit. Und auch wenn sie keine Lösungen anbietet, könnte allein die Lektüre ein Anfang sein, sich aus der vom Autor diagnostizierten Unmündigkeit zu befreien.
Byung-Chul Han: "Infokratie. Digitalisierung und die Krise der Demokratie"
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2021
100 Seiten, 10 Euro